Die Regierungsfraktionen von SPD und Grünen haben sich mit der Volksinitiative „Hamburg für gute Integration“ auf ein Maßnahmenpaket zur Flüchtlingsunterbringung geeinigt. Zentrales Element dabei ist die „Drei-Mal-300“-Formel: Bis Ende 2019 sollen die Unterkünfte im Durchschnitt höchstens 300 Plätze haben; alle jetzt neu geplanten Unterkünfte werden auf maximal 300 Personen ausgelegt; über ganz Hamburg möglichst gerecht verteilt kann es bis zu 300 Unterkünfte geben, wenn es erforderlich ist, um die anderen beiden Zielzahlen zu erreichen. Das Maßnahmenpaket soll morgen in der Hamburgischen Bürgerschaft beschlossen werden (siehe Anlage). Dadurch kann in Hamburg ein polarisierender Volksentscheid zur Flüchtlingspolitik vermieden werden.
Dazu Andreas Dressel, Vorsitzender der SPD-Bürgerschaftsfraktion: „Für die Einigung ist die städtische Seite bis an die Schmerzgrenze gegangen. Erst die veränderte Zugangsentwicklung bei den Flüchtlingen in diesem Frühjahr und Sommer hat den nötigen Spielraum für Kompromisse ergeben. In Verantwortung für den sozialen Frieden in unserer Stadt haben wir den Weg für die Verständigung frei gemacht, weil ein monatelanger Wahlkampf rund um das Thema Flüchtlinge die Gefahr der Spaltung unserer Stadtgesellschaft bedeutet hätte. Wir können den Kompromiss insgesamt gut vertreten, da die im Grundgesetz verankerte Unterbringungsverpflichtung der Stadt unmissverständlich klargestellt wurde. Bei den bestehenden Unterkünften haben wir einen weitgehenden Bestandsschutz vereinbaren können, bei den neuen Einrichtungen können die meisten Planungen nach Maßgabe der Einigung ebenfalls realisiert werden, was unverzichtbar ist, um die prekären Unterkünfte endlich zu schließen. Mit der ‚Drei-Mal-300‘-Formel geben wir insbesondere für Neuplanungen die Richtung vor – kleiner und gerechter auf die Stadt verteilt. Wichtig ist, dass diese flexible Formel atmen kann – insbesondere wenn wir wieder mit höheren Flüchtlingszahlen als aktuell umgehen müssen. Wir haben mit Verteilungsschlüsseln eine gerechtere Verteilung über die Stadt vereinbart, was ausdrücklich richtig ist, aber eben keine absolut geltenden Abstandsregeln in Metern, die die Unterkunftsplanungen bei den vielen Nutzungskonflikten in unserer Metropole massiv erschwert hätten. Bei den umstrittenen Expressbauten können alle aktuell noch geplanten Bauprojekte nach Maßgabe der Einigung gestartet werden – sie werden aber in reguläre Bebauungspläne überführt und schnellstmöglich gemischt belegt, mit teilweise deutlich reduzierter Flüchtlingsbelegung. So kann der bislang erst nach vielen Jahren geplante Übergang von öffentlich rechtlicher Unterbringung in normale Wohnnutzung deutlich beschleunigt werden. Dieser Kompromiss wird mehrere tausend, schnell verfügbare, zusätzliche Sozialwohnungen bringen – das ist eine gute Nachricht an viele Wohnungssuchende. Auch sonst bedeutet die Einigung Rückenwind für die Wohnungsbauanstrengung der Stadt – das ist auch deshalb wichtig, weil wir bereits rund 5000 wohnberechtige Flüchtlinge haben, die auf den Wohnungsmarkt drängen und versorgt werden müssen. Positiv werte ich auch die Einigung auf ein umfangreiches Integrationskapitel, das aufzeigt, an wie vielen Stellen Stadt und Zivilgesellschaft schon Herausragendes für die Integration geleistet haben und jeden Tag leisten. Wichtig war uns in den lokalen Bürgerverträgen mit den Bürgerinitiativen auch, die unverzichtbaren örtlichen Hilfsinitiativen mit zu berücksichtigen. Denn klar ist: Nur gemeinsam kann Integration gelingen. Mit der Einigung, für die ich allen Beteiligten dankbar bin, kann der Streit der letzten Monate befriedet werden – ein Gewinn für uns alle und für die Flüchtlinge. Abschließend ein großer Dank an die drei Vertrauensleute und deren Berater für die konstruktive Zusammenarbeit.“
Dazu Anjes Tjarks, Vorsitzender der Grünen Bürgerschaftsfraktion: „Aus meiner Sicht war die Flüchtlingssituation im Herbst 2015 die größte politische und gesellschaftliche Herausforderung seit der deutschen Wiedervereinigung. Es war immer klar, dass diese Entwicklung nicht reibungslos ablaufen wird. Stattdessen sind durch den rasanten Anstieg der Flüchtlingszahlen sehr unterschiedliche Positionen deutlich geworden. Wir haben es jetzt geschafft, in vielen Monaten intensiver Gespräche das nötige Vertrauen zu schaffen, um diese Positionen zusammen zu führen und eine Einigung zu erreichen. Das ist eine ungeheure Leistung, die ohne die direkte Demokratie nicht möglich gewesen wäre. Ich bin sehr froh, dass alle Akteure sich ihrer Verantwortung bewusst waren und einen harten, polarisierenden Volksentscheid über die Unterbringung schutzbedürftiger Menschen vermeiden wollten. Mit dem Verhandlungsergebnis stellen wir sicher, alle zu uns flüchtenden Menschen gut unterzubringen und die prekären Erstaufnahmestellen abzubauen. Wir ermöglichen eine noch viel stärker dezentralisierte Unterbringung – ohne die Stadt in ihren Möglichkeiten zu überfordern. Wir treffen Vorsorge, indem wir in dynamischen Szenarien denken, so dass wir sicherstellen können, alle Menschen angemessen unterzubringen. Und schließlich: Wir befrieden mit dieser Einigung viele Konflikte in Hamburgs Stadtteilen. Dadurch müssen wir unsere Kraft jetzt nicht mehr in Streitereien um die Größe von Unterkünften verschwenden, sondern ermöglichen es der Stadtgesellschaft jetzt gemeinsam die Integration der zu uns geflüchteten Menschen anzupacken. Auf geht’s.“
Dazu Klaus Schomacker, Sprecher der Volksinitiative: „Wir sind erleichtert, dass wir endlich erfolgreich eine Einigung erzielt haben. Es waren harte und detaillierte Verhandlungen. Aber wir haben mit dieser Einigung einen Volksentscheid verhindern können. Mein Dank gilt zunächst den zahlreichen ehrenamtlichen Helfern, die für die Verhandlungen viel Zeit geopfert und großen Sachverstand eingebracht haben. Entstanden sind mit ihrer Hilfe ein komplexer Bürgerschaftsantrag von mehr als 30 Seiten sowie 12 Bürgerverträge und viele Anhänge. Auch wenn wir uns nicht in allen Punkten durchsetzen konnten, so finden sich im Petitum doch zentrale Forderungen unserer Volksinitiative wieder. Beispielsweise sollen neue Flüchtlingsunterkünfte nicht mehr als 300 Menschen beherbergen und zudem wurde ein Abstandsgebot zwischen den Unterkünften verankert. Das führt zu dezentralen, kleineren Unterkünften. Und durch einen Verteilungsschlüssel für Unterkünfte wird jetzt Gerechtigkeit unter den Stadtteilen angestrebt. Trotz aller Einigkeit bleiben strittige Punkte bestehen. So halten wir es nach wie vor für Unrecht und ungerecht, wie die Stadt bei den Bauten nach Paragraf 246 und unter Polizeirecht vorgegangen ist. Dennoch bedanken wir uns sehr bei unseren Verhandlungspartnern Herrn Dr. Dressel und Herrn Dr. Tjarks. Sie haben uns viele Kompromisse abgerungen, aber auch ihrerseits das notwendige Entgegenkommen für eine Vereinbarung erkennen lassen. Ein besonderer Dank gilt unserem Strategieberater Frank Solms Nebelung, der einen zentralen Anteil an dem Verhandlungserfolg hatte.“
Dazu Jasmin Peter, Vertrauensperson der Volksinitiative: „Wir haben erfolgreich um Lösungen für ganz Hamburg gerungen. Dass wir dabei ein umfangreiches Maßnahmenpaket für gute Integration in diesen Beschluss einbringen konnten, hat mich besonders gefreut. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass eine dezentrale Wohnunterbringung allein für eine gute Integration nicht ausreicht. Dass dem nun auch durch verschiedene Absichtserklärungen innerhalb der Bürgerverträge mehr Sorge getragen wird, begrüße ich sehr. Zu den wichtigsten Ergebnissen gehört die Prüfung der Einführung einer Zentralen Koordinierungsstelle Integration (ZKI), die Entwicklung eines Masterplans Integration und diverse Einzelmaßnahmen unter anderem für KITAs, Schulen und den Arbeitsmarkt. Damit hat unsere Volksinitiative einen wichtigen Beitrag für die verbesserte Integration Geflüchteter in unserer Stadt leisten können.“
Dazu Harald Lübkert, Vertrauensperson der Volksinitiative: „Die harten Verhandlungen über die Bürgerverträge vor Ort wurden mit großem Engagement und großer Genauigkeit geführt. Das Ergebnis kann sich entsprechend sehen lassen. Immerhin werden 11 von 12 Initiativen ihre Bürgerverträge und Teilvereinbarungen unterzeichnen. Dies ist ein wichtiges Signal für die Bürger-Partizipation aber auch ein Signal großer Kompromissbereitschaft im Sinne des Gemeinwohls. Denn an keiner Stelle konnten sich die Initiativen komplett durchsetzen, was vielen Mitstreitern wehtat und manche Wunde hinterlassen wird. Aber das zeichnet einen guten Kompromiss aus: Beide Seiten sind bis an ihre Schmerzgrenze gegangen, um eine Einigung zu erzielen und einen Volksentscheid zu verhindern. Und ich bin froh, dass wir das Thema nicht Populisten vom rechten Rand überlassen haben. Das war wichtig für die politische Kultur in der Stadt. Jetzt müssen alle Beteiligten die Gräben zuschütten, aufeinander zugehen und die Mammutaufgabe der Integration gemeinsam anpacken.“
Dazu Frank Solms Nebelung von Nebelung Kommunikation, Strategieberater der Volksinitiative: „Die politische Kultur gegenüber Volksinitiativen entwickelt sich spürbar weiter. Denn Andreas Dressel und Anjes Tjarks haben vom ersten Tag an deutlich gemacht, dass sie eine Einigung wollen. Beide haben hart und professionell verhandelt, aber dabei nie das Ziel aus den Augen verloren und stets Geduld und Respekt gegenüber den durch die Volksgesetzgebung mandatierten Bürgern bewiesen. In Hamburg werden solche sensiblen Themen von verantwortungsvollen Bürgern in hunderten ehrenamtlicher Stunden mit der Politik verhandelt und einer gemeinwohlorientierten Entscheidung zugeführt. Darauf können alle Beteiligten stolz sein. Meine Mandanten haben einen bemerkenswerten Beitrag zur Stärkung der Bürgergesellschaft geleistet und deren Mitgestaltungswillen eindrucksvoll bewiesen. Bürgerschaftliches Engagement wurde so im politischen Diskurs dieser Stadt noch fester verankert. Auch das ist ein Gewinn für alle.“
Dazu Udo Steinwandel, Leiter Arbeitskreis Zahlen der Volksinitiative: „Gemeinsam mit Herrn Dr. Dressel und Herrn Dr. Tjarks haben wir uns auf ein Verteilungskonzept geeinigt, welches vor dem Hintergrund stark schwankender und schwer planbarer Zugangszahlen sowohl die menschenwürdige Unterbringung der Geflüchteten als auch die Rahmenbedingungen für gute Integration berücksichtigt. Dazu haben wir mit den Fachleuten des ZKF ein analytisches Prognosemodell entwickelt und drei Szenarien für hohe, mittlere und niedrige Zuwanderungszahlen simuliert. Die Kompromisslösungen dieses ‚atmenden‘ Modells sorgen im Sinne einer nachhaltigen Integration für Akzeptanz in den Stadtteilen und sichern darüber hinaus ab, dass keine öffentlichen Mittel für Überkapazitäten aufgewendet werden, sodass es sich am Ende auch aus Sicht des Steuerzahlers um ein sinnvolles Konzept handelt.“
Die wichtigsten Inhalte der Einigung im Überblick:
· Alle Parteien bekennen sich zur rechtlichen wie moralischen Verpflichtung der Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten in Hamburg.
· Prekäre Erstaufnahme-Einrichtungen werden Schritt für Schritt weniger belegt und mit Priorität geschlossen.
· Für Neuplanungen von öffentlich-rechtlichen Unterkünften gilt die „Drei-Mal-300“-Regel:
o Folgeunterkünfte werden zukünftig möglichst in Größenordnungen zwischen 150 und bis maximal 300 Plätzen geplant.
o Daraus ergibt sich – je nach Zugang – eine größere Anzahl aus kleinen Unterkünften bis hin zu einer Zielzahl von bis zu 300 Standorten in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung.
o Verbindlich bis zum 31.12.2019 ist eine Durchschnittskapazität in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung von unter 300 Plätzen zu erreichen.
· Um die gerechte Verteilung der Flüchtlinge über Hamburg transparenter und nachvollziehbarer zu machen, wird ein kriteriengestützter Verteilungsschlüssel für die Hamburger Bezirke erarbeitet, in einem zweiten Schritt ein entsprechender – das Sozialmonitoring und den Faktor Fläche berücksichtigender – Verteilungsschlüssel für die Hamburger Stadtteile.
· Die vollziehbar genehmigten, im Bau befindlichen und vom ZKF geplanten Folgeunterkünfte werden im Rahmen der Verständigung wie projektiert realisiert. Bestehende Unterkünfte haben weitgehenden Bestandsschutz. Auch wenn beide Seiten beim Fortgang des Programms „Flüchtlingsunterkünfte mit der Perspektive Wohnen“ keinen vollständigen Konsens erreicht haben, sind sie sich einig, dass durch die konsequente Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen der Anteil öffentlicher Unterbringung weiter reduziert und die Projekte mit der Schaffung von normalem Baurecht auch auf normale Wohnnutzung hin ausgerichtet werden kann. Das bietet die Chance, schneller und konsequenter vor allem das zu erreichen, was Hamburg dringend und zeitnah braucht – mehr Sozialwohnungen!
· Die Volksinitiative und der Zentrale Koordinierungsstab Flüchtlinge (ZKF) gehen von unterschiedlichen Zugangsszenarien aus. Beide Seiten einigen sich darauf, dass eine Fortschreibung der Bedarfsprognose an Unterbringungsplätzen laufend erfolgt und aktualisiert wird. Die Reduzierung der Flüchtlingswohnungen innerhalb des Programms „Flüchtlingsunterkünfte mit der Perspektive Wohnen“ erfolgt angepasst an die aktualisierte Betrachtung des Zugangsszenarios im Hinblick auf die Flüchtlinge
· Das Hamburger Integrationskonzept von 2013 „Teilhabe, Interkulturelle Öffnung und Zusammenhalt“ (Drs. 20/7049) hat erstmals messbare Ziele der Integrationspolitik formuliert und mit Indikatoren hinterlegt. Vor dem Hintergrund der stark gestiegenen Flüchtlingszahlen soll das Konzept in einem partizipativen Prozess, an dem auch die Flüchtlinge beteiligt werden, angepasst, ergänzt und fortgeschrieben werden. Ziel ist, das Integrationskonzept zu einem echten Masterplan Integration weiterzuentwickeln. Geprüft wird dafür auch die Einrichtung einer Zentralen Koordinierungsstelle für Integration (ZKI).
· Begleitend zu den Verhandlungen, die zu diesem Ersuchen geführt haben, hat es zahlreiche Gespräche mit vielen Einzelinitiativen gegeben. Das Ergebnis sind politisch verbindliche Bürgerverträge. Nicht alle Gespräche konnten bis zur Fertigstellung dieses Ersuchens abgeschlossen werden. Die antragstellenden Fraktionen und die diesen Konsens mittragende Volksinitiative werden diesen Prozess weiter begleiten und unterstützen, um möglichst überall in Hamburg möglichst breit getragene Konzepte für Unterbringung und Integration umsetzen zu können.